Sonja Schwingesbauer: Seit 1992 bist du im Naturhistorischen Museum Wien beruflich tätig. Mittlerweile bist du Abteilungsleiter der Abteilung für Insekten. Du hast auch schon viele Jahre als Forscher hinter dir. Was waren für dich die spannendsten Momente oder Entdeckungen während deiner Laufbahn?
Herbert Zettel: Viele Menschen glauben, ein Forscherleben ist voll spannendster Entdeckungen. Selbst bei tiefstem Interesse: die Heureka-Momente sind selten. Schon im Rahmen meiner Dissertation hatte ich 108 Brackwespenarten und fünf Gattungen neu beschrieben – alles ausschließlich anhand von genadelten Insekten aus vielen Museen. Das bedeutete viele Stunden Messungen von Körperteilen, Merkmalsbeschreibungen und Zeichnungen.
Meine Anstellung im Jahr 1992 brachte zwei grundlegende Änderungen: Erstens, als Kurator für Hemiptera wandte in mich den Wanzen zu, genauer gesagt den Wasserwanzen. Zweitens war ich nun von den größten finanziellen Zwängen befreit, und es gab plötzlich die Möglichkeit, die Vielfalt der Tropen zu erkunden, mit privaten Mitteln oder sogar in Expeditionen des Museums.
Meine Ziele lagen in Südostasien. Auch über entomologische Expeditionen haben die Menschen oft falsche Vorstellungen: gefährliche Tiere wie Schlangen und Skorpione, Tropenkrankheiten und Überfälle. Das gefährlichste sind aber Unfälle. Unzählig waren die Busse und PKWs, die ich in Straßengräben oder unter Abhängen gesehen habe. Die kritischsten Situationen entstanden beim Sammeln allein auf rutschigem Terrain.
Außerdem: Die meisten neuen Arten entdeckt man nicht während einer Expedition, sondern danach, am Arbeitsplatz nach genauer Betrachtung der „Ausbeute“ unter dem Mikroskop, oft sogar erst nach Sezieren der Genitalstrukturen. Doch ein paar tolle Entdeckungen vor Ort gab es schon, z. B. jene einer neuen Unterfamilie der Halbkugel-Rückenschwimmer in den Bergbächen Borneos oder die neue Gattung von Bachläufern im Eingangsbereich eine Höhle in Thailand.
Sonja Schwingesbauer: Du hast dich tatsächlich schon mit sehr vielen Insektengruppen, heimischen und exotischen Arten befasst. Gibt es eine Tiergruppe, in die du dich als Forscher noch neu oder stärker vertiefen wollen würdest?
Herbert Zettel: Ich habe während meiner Karriere hauptsächlich über drei Insektenordnungen publiziert: Wanzen, Hautflügler und Käfer. Die Methoden der Taxonomie (der Benennung und Beschreibung von Arten) sind ja ähnlich anzuwenden. Da Zeit im Leben eines Naturforschers immer Mangelware ist, sind immer wieder Vorhaben „unvollendet“ geblieben. Wahrscheinlich gehen meine unerledigten Aufgaben, die „aufzuräumen“ wären, in den dreistelligen Bereich.
Andererseits: Ich habe das Studium der Entomologie in einer Zeit begonnen, als illustrierte Bücher Mangelware waren. Strichzeichnungen waren meist das Maximum und aus Kostengründen nur sehr spärlich vorhanden. In den 1980er-Jahren schrieb ich meine Manuskripte mit einer alten, mechanischen Schreibmaschine und ergänzte sie durch Tuschezeichnungen. Die Erfindung der Digitalfotografie war ein Meilenstein für die Entomologie. Das Internet sorgte für eine schnellere Verbreitung des Wissens. Ich weiß schön illustrierte Insektenbücher, insbesondere wenn sie taxonomische Revisionen enthalten, wirklich sehr zu schätzen. Daher stammt vermutlich auch mein Interesse für Schriftleitung. Es macht mir auch Spaß, mir noch unbekannte Insektengruppen „auszuprobieren“.
Sonja Schwingesbauer: Immer wieder ist das Artensterben ein großes mediales Thema. Ist es um unsere Tierwelt und auch die Insektenwelt tatsächlich so schlimm bestellt? Und wenn ja, was müsste man aus deiner Sicht tun, um das zu ändern?
Herbert Zettel: Ich glaube, um die Artenvielfalt ist es noch viel schlimmer bestellt, als in den Medien berichtet wird, aber die Berichte gehen weitgehend an den größten Problemen vorbei. Die nationale Roten Listen sind besorgniserregend. In der kürzlich neu erschienenen Roten Liste der Ameisen Österreichs haben Spezialisten knapp die Hälfte aller Arten als gefährdet, stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht eingestuft. Die Zahlen sind alarmierend – hoffentlich auch für die Naturschutzbehörden. Dabei geht es aber immer „nur“ um die Verhinderung nationaler Artenverluste.
Global gesehen lebt die größte Biodiversität in den Tropen. Dort verschwinden die Arten tatsächlich, und zwar für immer und meist unbemerkt. Dort wird nach wie vor, oft ungehindert, Raubbau an der Natur betrieben. Auf den Philippinen ist der natürliche Urwaldbestand auf wenige Prozente (< 3%) geschrumpft. Kleinere Inseln haben Waldökosysteme komplett verloren und mit ihnen alle endemischen Bewohner. Ich bin mir sicher, dass ich vor einem Vierteljahrhundert auf den Philippinen in Fließgewässern Arten gefunden habe, die heute nicht mehr existieren.
Was hat sich dort im Laufe meiner Lebensspanne verändert? Die früheren Hauptprobleme Hunger und Krankheiten wurden deutlich reduziert, in einigen Ländern ist das Hungerproblem fast gelöst. Die postkoloniale Entwicklung hat aber nur in wenigen Staaten zu einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit geführt.
Sonja Schwingesbauer: Du bist unter anderen auch Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Österreichischer Entomologen. Warum ist es wichtig, dass es Vereine wie die AÖE gibt, wo Wissenschaftler und unabhängige nebenberufliche Entomologen zusammenkommen?
Herbert Zettel: „Entomologe“ ist die Bezeichnung für einen Wissenschaftler der Insektenkunde, also für eine Person, die wissenschaftliche Ergebnisse in diesem Fachgebiet liefert. Früher waren die meisten Mitglieder der AÖE Sammler, meist von Schmetterlingen und Käfern. Eine klare Unterscheidung zwischen Wissenschaftlern und Amateuren ist eigentlich nicht möglich, es sei denn, man zieht ein abgeschlossenes Hochschulstudium als Hilfskriterium heran. Wissenschaftlich aufgebaute Sammlungen, auch in privater Hand, waren immer schon Säulen der taxonomischen Forschung. Selbst wenn ein Sammler nicht selbst Forschungsergebnisse publiziert, so landen die Früchte seiner Arbeit, also seine Präparate, fast immer irgendwann in einer öffentlichen Sammlung wie z. B. dem Naturhistorischen Museum. Gerade für Rote Listen, die heute nach objektiveren Kriterien als früher erstellt werden, ist jeder einzelne Beleg, und sei er 100 Jahre alt, wichtig. Es gab und gibt in der AÖE zahlreiche „Amateure“, die neue Arten in ihrer Freizeit beschreiben. Die Zeitschrift der AÖE ist voll mit Beispielen.